Aufklärung unvollendet

Denis Diderot würde in diesem Jahr 300 Jahre alt. Üblicherweise gelten Jean-Jacques Rousseau und Voltaire als die bahnbrechenden Flagschiffe der französischen Aufklärung.
Doch vor allem der Krawallier und Kulturverneiner Rousseau verteidigt nicht Freiheit, Erkenntnis- und Gestaltungsfähigkeit des Individuums, sondern das Gegenteil: Wechselnd von Calvinist zu Katholik zu Calvinist strebt er durchgängig die Aufgabe aller Individualität zugunsten eines „Volonté général“ – also eines „allgemeinen Willens“ im von ihm postulierten „Naturzustand“ an. Seinen persönlichen Naturzustand lebt er unter anderen im komfortablen Gästehaus der Parklandschaft einer Gönnerin aus, in dessen malerischer Einsamkeit er sich in regelmäßigen Abständen von Gästen bewundern lässt.
Voltaire schafft es kraft seines beißenden Verstandes mit seinen Veröffentlichungen zunächst bis in die Bastille, später als Flüchtling auch nach England – dennoch war und blieb er Monarchist. Auch seine Kirchenkritik gilt in erster Linie dem Klerus, nicht Gott. „Aus Vernunftgründen“ muss ein Gott als Ursache für kosmische Ordnung und Gesetzmäßigkeit sowie für das sittliche Bewusstsein angenommen werden. Erst das Jahrhundert-Erdbeben von Lissabon (1755) lässt ihn, wie viele andere, den Glauben an den Allmächtigen bezweifeln.
Denis Diderot, einer der unbekanntesten Bekannten, pflegt über einige Jahre eine enge Freundschaft zu Rousseau. Doch mit den Jahren gelingt es ihm trotz seiner jesuitischen Ausbildung nicht mehr, den Bereich des Glaubens von seiner aufklärerischen Denktätigkeit auszunehmen. Zwar sehnt auch er sich durchaus nach dem tröstlichen Schutz einer religiösen Überzeugung – aber sein Denken lässt diese Flucht nicht zu. Und entlang dieser Konsequenz bricht auch die Freundschaft zu Rousseau, dessen friedloser Charakter die meisten seiner Bekanntschaften ohnehin mit einer „Operation: Verbrannte Erde“ enden lässt.

Jahrzehnte seines Lebens stellt Diderot in den Dienst eines Meilensteins der Aufklärung und ich kann ihn dafür nicht genug bewundern: „La Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers“ – „Die Enzyklopädie oder Wörterbuch der Wissenschaften, der Künste und der Gewerbe“. Es ist ein universales Nachschlagewerk, so innovativ wie monumental. Geplant als französische Übersetzung des zweibändigen englischen Lexikons „Cyclopaedia“ von Ephraim Chambers, entwickelt la Encyclopédie bald eine enorme Eigendynamik und entfaltet sich zu einem maßgeblichen und manchmal unter Lebensgefahr umstrittenen Werk in 28 Bänden.
Durch Diderots Initiative international besetzt, trieb das Unternehmen seinen Herausgeber immer wieder über den Rand der Verzweiflung. Aufgegeben hat er es nie und der namhafte Kreis der Autoren, zu dem auch Rousseau und Voltaire gehörten, firmierte bald unter der Bezeichnung „Die Enzyklopädisten“.
Diderot selbst landete bereits 1749, während der Vorarbeiten, wegen aufklärerischer Veröffentlichungen in Haft. 1752, im ersten Jahr nach Erscheinungsbeginn wurden gleich die ersten beiden Bände verboten, zehn Jahre später schafften es dann alle sieben bis dahin erschienenen Bände auf den Index. Die weiteren Bände konnten nur heimlich erscheinen, abhängig von der der Duldung des klügeren Oberzensors Malesherbes sowie des Schweigens der Madame Pompadour.

Diderot hat mit der Enzyklopädie ein Nachschlagewerk mit Universalanspruch veröffentlicht. Er war der Ansicht, dass eine Universalenzyklopädie von der Zusammenarbeit und dem Wissen vieler Fachleute lebt und organisierte dementsprechend Mitautoren und Mitarbeiter – internationale, qualifizierte Namen aus der „Republik der Geister“.
Um die Artikel und Wissensgebiete miteinander zu vernetzen, entwickelte er ein noch nicht dagewesenes System inhaltlicher Verweise. Die ungewöhnliche alphabetische Ordnung hob die bis dahin übliche Systematik und damit auch die geltende hierarchische Ordnung des Wissens auf.
War all das für die Obrigkeit bereits Ausdruck lästiger geistiger Unabhängigkeitsbestrebungen, so schlugen die Inhalte der Artikel dem sorgsam versiegelten Fass des geduldeten Wissens geradezu den Boden aus: Nicht die vorherrschende, geltende Deutung der Welt wurde vorgestellt – Monsieur Diderot erdreistete sich, verschiedene, auch konträre Standpunkte zu einzelnen Themen zu integrieren oder Artikel zu veröffentlichen, die, naturwissenschaftlich fundiert, den Lehren der Kirche schon durch ihr bloßes Erscheinen widersprachen. Mochte er auch immer wieder darauf verweisen, das ganze Unternehmen „zum Ruhme Frankreichs“ durchzuführen – er riskierte fortwährend seine Existenz.
In der Gegenwart, in der ausführliche Texte von vielen nicht mehr gelesen werden können, Gedächtnisfunktionen von digitalen Netzen übernommen werden, und man die Reduzierung menschlicher Ausdrucksfähigkeit auf 140 Zeichen und Smileys als Revolution feiert, mag es rückwärtsgewandt scheinen, an eine Enzyklopädie zu erinnern, deren Herausgeber (und nicht nur er) Leib, Leben und Lebensjahre riskiert hat, um sie zu schreiben. Schließlich haben wir solcherlei Mühen nicht mehr nötig.
Tatsächlich ist es ein Blick nach vorn, denn die Geschichte dieser Enzyklopädie setzt menschliche Maßstäbe, die in einer freien Informationsgesellschaft von zentraler Bedeutung sind. Und solange freiheitliche Gesellschaften nicht Naturgesetz sind, wird sich daran auch nichts ändern.

Diderot hat nicht vorhersehen können, wohin seine Arbeit führen wird. Er war dem freien Denken verpflichtet und hat dafür seine Existenz riskiert. Zur Freiheit gehören auch Zugang und Kenntnis alter Quellen und Formate sowie die Fähigkeit und der Mut, sich damit auseinanderzusetzen – aus verschiedenen Perspektiven. Es ist ja durchaus der Glaube üblich, die Technik selbst sei der Fortschritt und jedes verbesserte Display Grund genug, zum Tempel zu pilgern. Wo der Einsatz von Technik jedoch die inhaltliche Auseinandersetzung an Bedeutung überflügelt, sind in einer Sintflut von Äußerungen und ungezählten Möglichkeiten die Zensoren aller Jahrhunderte erfolgreich.

Höchst empfehlenswerte Titel:
– Blom, Philipp: Böse Philosophen – ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung (Hanser, 2011/ dtv, 2013)
– Friedenthal, Richard: Entdecker des Ich – Montaigne, Pascal, Diderot (Piper,1969)