studiosus anonymus oder Aus den Papieren eines betagten Philosophie-Hörers

– von Rolf Gunkel –

Als sich 2011 mein aktives Berufsleben dem Ende zuneigte, wollte ich mir einen langgehegten Traum erfüllen. Schon lange „gärte“ es in mir, endlich einmal tiefer und systematischer in philosophische Fragen einzutauchen. Und was bot sich besser an, als mich im universitären Raum umzuschauen? Freilich hatte ich nicht die Absicht, ein ordentliches Studium mit dem Ziel eines Abschlusses einzugehen. Seminararbeit und der Erwerb von Scheinen (heute: Creditpoints) war mir zu kompliziert, der Status des „Gasthörers“ genau das Richtige.

Von Anfang an war für mich abgemacht, in der Masse der Studentenschaft zu versinken und entspannt in einem Hörsaal tiefschürfenden Vorlesungen erfahrener Professoren zu lauschen und meinen Gedanken „nachzuhängen“.
Einen genauen Plan hatte ich nicht, sondern orientierte mich an den angebotenen Vorlesungen. Die Äußerungen eines einige Wochen zuvor kontaktierten Dozenten, der auch für die Studienberatung zuständig war, hatte auf mich eine etwas abschreckende Wirkung, teilte er mir doch mit, dass man als (betagter) Gasthörer vor dem Besuch einer konkreten Veranstaltung mit dem Dozenten absprechen solle, ob dieser mit der Teilnahme einverstanden sei. Es gebe üblicherweise keine Probleme, wenn die Veranstaltung nicht mit „ordentlich“ Studierenden ausgebucht sei. Ich müsse verstehen, dass die Vorlesungen und Seminare natürlich vorrangig den Studenten vorbehalten seien, die einen „richtigen“ Abschluss machten. Es könne auf Lehrkräfte irritierend wirken, wenn der Anteil an älteren Gasthörern überwiege, die ja keine „Scheine“ machen müssen und somit nicht unbedingt zum Aktivposten der Veranstaltung gehörten.

Nach diesen schwungvollen Informationen besorgte ich mir ein kommentiertes Vorlesungsverzeichnis und legte mit Semesterbeginn los.

Leider war, wie mir später erfahrene „Mitgasthörer“ darlegten, mein „Studienplan“ nicht grundständig und logisch aufgebaut- was der Tatsache geschuldet war, dass ich nur an bestimmten Wochentagen die Uni besuchen konnte: anstatt also leicht und locker mit einer Einführung in die praktische Philosophie (Ethik) zu beginnen, geriet ich stattdessen auf unbekanntes Terrain: die Philosophie des Geistes. Die Vorlesung wurde von einer jungen Gastdozentin bestritten. Da ging es um den nicht-reduktiven Physikalismus, Substanzdualismus, philosophische Zombies und invertierte Qualia, anomalen Monismus, Supervenienzprobleme und dergleichen. Die Begriffe flogen mir wie ein Punchingball um die Ohren. So hatte ich mir meinen Zugang zu philosophischen Fragen eigentlich nicht vorgestellt. Die Leib-Seele-Problematik schlug mir zeitweilig auf den Magen. Die vorgestellten Gedankenexperimente von Hilary Putnams Zwillingserde, Thomas Nagels Fledermäusen oder die Veranschaulichung des Typen- und Tokenphysikalismus brachten mir wenig Erkenntnisgewinn. Allenfalls Wittgensteins Privatsprachenargument konnte mich bewegen, über die Bedeutung von Sätzen nachzusinnen (da ist mir die Habermas’sche Diskurstheorie aber näher!). Dazu kam, dass die Vorlesung wenig Lebendigkeit zeitigte, kam es doch trotz wiederholter Aufforderung an die anwesenden Studenten, Fragen zu stellen und Thesen zu diskutieren, zu keinem lebhaften Austausch. So kämpfte ich manches Mal mit dem Schlaf.
Auch die phänomenale Power-Point-Präsentation konnte daran wenig ändern. (Ich habe später noch mal einen Versuch gestartet und eine Veranstaltung zur analytischen Philosophie bei einem ordentlichen Professor besucht – aber Neugier und Diskussionsbereitschaft der Studenten war auch hier nicht zu finden).
Diese ganze Debatte um Willensfreiheit und Determinismus, ergänzt durch die neueren Ergebnisse der Hirnforschung, finde ich langweilig. Die Dominanz der amerikanischen Philosophie seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts ist unverkennbar.

Das nicht nur bei mir zu beobachtende wachsende Interesse an Philosophie in den letzten Jahren muss mit anderen Faktoren zu tun haben:

  • Kann das „gute“ Leben nur aus der Jagd nach Glück und Geld bestehen?
  • Wo sind seit dem Fall des Eisernen Vorhangs die alternativen Gesellschaftsentwürfe zum Kapitalismus geblieben?
  • Krisenerscheinungen
  • Identitätsverlust,
  • Auswirkungen globalisierten Lebens werden offenbar nicht im Hörsaal verhandelt.

Aber was will ich eigentlich hören? Ehrlich gesagt, vermisste ich die in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts geführten Debatten und deren Weiterentwicklung z.B. der Frankfurter Schule, marxistischer Ansätze oder der Französischen Strukturalisten: wo sind sie – Horkheimer/Adorno, Althusser, Foucault, Bourdieu?. Jedenfalls nicht im Hörsaal. Keine Debatte über Vernunft und Moral angesichts der ökonomischen und Finanz(krisen), keine Erörterung von Identitätsverlusten und wirtschaftlicher Verarmung weiter Bevölkerungsschichten in vielen EU-Nationalstaaten. Muss sich die universitäre Philosophie nicht auch mit den Überwachungspraktiken der Geheimdienste im Kontext effektiver Kontrollmechanismen des Staates beschäftigen oder immer subtiler werdende Machtstrukturen gesellschaftlicher Interessengruppen und Kartelle (Foucault lässt grüßen!) analysieren oder der Frage nachgehen, warum sich der Staat immer stärker mit Phänomenen der Reproduktion (Leben – Sterben – Geburtenraten) beschäftigt??

Aber zurück zu meinen Erfahrungen und Begegnungen:

Dozenten und Studenten

Kurios verlief die Begegnung mit einer Professorin, die den Lehrstuhl der klassischen deutschen Philosophie vertritt. Mit moderner Präsentationstechnik war sie wenig vertraut, sie baute in ihren Veranstaltungen auf den guten alten Overheadprojektor. Sie erwähnte an verschiedenen Stellen, dass sie die modernen computergesteuerten Präsentationshilfen ablehne, weil die Zuhörer sich dann nur mehr oder weniger berieseln ließen. Sie setze dagegen voraus, dass die Studenten Vorlesungsmitschriften anfertigen und das Vorgetragene so besser (auch für die Klausuren) behalten würden. Ich nahm mir dies zu Herzen und schrieb fleißig mit (wie auch in anderen Vorlesungen – schon aus Gedächtnisgründen). Leider hatte sie des Öfteren auch Probleme mit dem Equipment vorn am Pult; insbesondere das Mikro lief nicht, wenn ihre Assistenten dies nicht vorher eingestellt hatten. Und so trug sie ihr Wissen in den großen Hörsaal, wobei in den hinteren Reihen akustisch wenig ankam. Problematisch erschienen allen Beteiligten die durch den großen Hörsaal hervorgerufenen Hustenanfälle bei ihr (sie war felsenfest davon überzeugt, dass mit diesem Raum etwas nicht in Ordnung sei – von Asbestpartikeln sprach sie aber wohl nicht), die den Ablauf der Vorlesung zu gefährden schienen. Gerade als sie das Fichte’sche Ich erläutern wollte, überrollte sie wieder so ein böser trockener Husten. Sie unterbrach ihren Gedankenfluss beleidigt und sann laut darüber nach, an eine andere Uni zu wechseln; der Zustand hier sei auf Dauer unerträglich. Sie blieb aber dann doch und wechselte in den folgenden Semestern den Hörsaal. Ich erlebte auch einen Vorlesungsabbruch bei ihr:
An einem Vorlesungstag herrschte eine außergewöhnliche Unruhe unter den Studenten. Ein gewisser Lärmpegel stellte sich durch studentisches Gemurmel an verschiedenen Ecken des Hörsaales ein. Aufrufe der Professorin zur Einhaltung der Disziplin verhallten ungehört. Nervosität machte sich bei ihr breit. Dann klingelte das Handy eines Kommilitonen, der offensichtlich vergessen hatte, sein Gerät auszuschalten.. Dies brachte das Fass zum Überlaufen: sie packte ihre Sachen und verließ grußlos den Hörsaal. Die Veranstaltungen bei ihr waren durchaus interessant, aber ich war immer in Sorge, dass sie nicht durchhalten würde.

Oder:

In einer Vorlesung zu philosophischen Gesellschaftstheorien echauffierte sich der Professor maßlos über das desinteressierte Verhalten vieler Studenten, die nur auf ihre „Scheine“ aus sind. Ihm missfiel, dass eine ganze Reihe von Kommilitonen sich auf die Treppe des Hörsaals setzen, obwohl Sitzplätze vorhanden waren (zu deren Einnahme er immer wieder aufrief), offenbar – so seine Annahme – mit der Absicht, zu passender Gelegenheit die Veranstaltung unauffällig zu verlassen und zwar dann, wenn man sich in die Anwesenheitsliste eingetragen hatte. Er dozierte darüber, dass man in der Fachschaft schon darüber geklagt hat, dass manche Veranstaltungen (vor allem Seminare) nicht mehr arbeitsfähig sind, weil unter den Studenten ein Kommen und Gehen sei. Andere wiederum beschäftigten sich während der Vorlesung mit ihren i-Phones, i-Pads, Notebooks und dergleichen. Er habe den Eindruck gewonnen, dass viele Studenten mental abwesend seien, auch kein Unrechtsbewusstsein hinsichtlich ihres Tuns hätten und wohl Philosophie als „Laberfach“ betrachteten. Er hob hervor, dass die Uni-Verwaltung eine statistische Erhebung durchgeführt habe, aus der hervorgehe, dass nur 8% der Ersteinschreiber unter den Philosophiestudenten einen Bachelor-Abschluss machten. Er habe dies gar nicht glauben können. In den folgenden Vorlesungen kam es von seiner Seite immer wieder zu Unterbrechungen durch den Hinweis an zu spät Kommende, dass genügend freie Sitzplätze vorhanden seien und der Ankündigung, die Anwesenheitsliste erst zum Ende der Vorlesung herumgehen zu lassen. Auch sollten sich Studenten bei ihm abmelden, wenn sie eher gehen müssten.
Ein philosophischer Dialog sieht anders aus.
 
Doch auch was die jetzige Studentengeneration anbelangt, scheint eine neue Zeit angebrochen zu sein: Die Konzentration über 90 Minuten scheint manchen zu überfordern.
Deshalb machen viele Dozenten nach der Hälfte der Vorlesung eine 5 – 10-minütige Pause. Ein intrinsisches Interesse am Fach Philosophie scheint nicht sehr ausgeprägt zu sein. Die Studentenschaft steht aufgrund der verschulten Studienordnungen im Stress und jagt den „Scheinen“ nach. Langwierige gesellschaftliche Analysen, das „Durcharbeiten“ komplexer Theorien ist – im Gegensatz zu meiner eigenen Studentenzeit – kaum erkennbar. Die alten linken studentischen Gremien mit ihren Symbolen (z.B. Roter Stern) gibt es aber noch.
Was mag aus ihnen werden?

Nach drei Jahren Uni-Besuch im Ruhrgebiet bin ich nun zu einer kleinen Universität im Bergischen Land gewechselt. Hier finde ich seltsamerweise die Themen, die ich vermisst habe. Und sogar eine Max-Horkheimer-Straße hat der Campus aufzubieten. Es besteht noch Hoffnung……