Wert Wissen

Irgendwann in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts etablierte sich in den Öffentlichen Bibliotheken landauf landab ein neuer Begriff, der den Beginn eines neuen, besseren Zeitalters markieren sollte: Wer immer sich in einer  beliebigen Öffentlichen Bibliothek blicken ließ um deren Angebot in Anspruch zu nehmen, musste sich nicht länger mehr als „Nutzer“ oder „Leser“ beschimpfen lassen. Nein, es handelte sich fortan um etwas viel Besseres, Würdigeres, Schickeres: Erstmals gab es in Öffentlichen Bibliotheken „Kunden“. Der neue Begriff schwappte durch die Fachpresse, durch Aus- und Weiterbildungen und wurde mit dem Brustton schnaubender Empörung posaunt, wenn der Kämmerer mal wieder nicht so wollte wie „Der Kunde!“. Mit Ausrufezeichen. „Der Kunde!“ soll Zeugnis ablegen von der Modernität der neuorientierten Öffentlichen Bibliotheken: er bezeugt das neue Zeitalter von Effizienz, Serviceorientierung, Leistungsbereitschaft. Es hat eine Weile gedauert, aber inzwischen ist „Der Kunde“, gar „Der Bibliothekskunde“ eine feste Größe im bibliothekarischen Vokabular. Woran ich mich nicht erinnern kann: nachdenkliche Widerständigkeit gegen den Import beliebiger ökonomischer Begriffe in das fachliche Ausdrucksvermögen.

Diese Entwicklung dokumentiert ein Phänomen: die zwanghafte Ökonomisierung öffentlicher Strukturen. Das Versprechen der Ökonomisierung ist ein Heilsversprechen, wie es inbrünstiger nicht sein kann: Alles Übel wird ausgemerzt, wo der „Kunde“ im Schilde geführt wird. Werde Kunde, dann wird es Dir an nichts mangeln!

Ein Kunde, dass dürfte eine weit verbreitete Erfahrung sein, ist aber keineswegs jeder Sorge enthoben. Und den meisten Angestellten im Einzelhandel ist es vollkommen egal, ob ein Kunde den Laden zufrieden verlässt oder nicht. Es ist ihnen sogar so egal, dass es Ihnen in die Bildschirmschoner getextet werden muss: „Du bist erst zufrieden, wenn der Kunde zufrieden ist!“ – Mit Verlaub: alles, was man eigens betonen muss, muss wohl auch eigens betont werden. Zudem ist der Bereich, dem der Begriff „Kunde“ angehört einer, dem es in keiner Weise um Freiheit, Demokratie, Bildung oder Wissen geht. Es ist der Bereich des Handels und wer handelt, möchte „dem Kunden“ etwas verkaufen – und zwar nicht zum Wohl des Kunden, sondern zu seinem eigenen Wohl. Das Wohl des Kunden ist nur soweit relevant, wie es zur Vergrößerung des Gewinns für den Händler unabdingbar ist. Reklamationen kosten, sie sollten deshalb vermieden werden. Es geht um den Zugriff auf das Portemonnaie des Kunden, sonst nichts.

Und in den Bibliotheken hält man sich für fortschrittlich, weil man sich diesen Begriff zu Eigen gemacht hat als ginge es dabei geistig um Nichts. Konnte man nicht auch einen Bürger, Nutzer oder Leser zuvorkommend behandeln und umfassend beraten? Hätte man dazu nicht auch noch viel eher guten Grund? Weil es nicht um simplen Warentausch, sondern um etwas anderes geht? Etwas, das eben nicht dem Zwang der Profitmaximiernung dienen muss, sondern Selbstzweck sein darf? Nämlich dem Erwerb von Wissen? Es ist eine der armseligsten Entwicklungen unserer Zeit, alles dem Diktat der Nützlichkeit zu unterwerfen und als wertlos abzukanzeln, was keinen Preis hat. Nur was ökonomisch verwertbar ist, soll in Zukunft relevant sein (s. die Bedeutung der Computerspiele, deren gesellschaftliche Bedeutung im Computerspielemuseum mit dem Argument steigender Verkaufszahlen belegt wird. Sie sind es – und das sagt einiges über unsere Kultur aus).

Diesem Denken wollen auch die Bibliotheken Tribut zollen, die „Kunden“ haben und es zudem zugelassen haben, dass Ausleihzahlen DAS Kriterium geworden sind, an dem sich angeblich ihre Leistung messen lässt. Dass der Profit, den sie erwirtschaften, immateriell ist, ist ihnen selbst nicht recht. Sie haben es jedenfalls nicht geschafft, ein entsprechendes Bewusstsein auch nur anzudenken. Anstatt sich aber darüber klar zu werden, dass Öffentliche Bibliotheken für offene Gesellschaften unentbehrlich sind, gerade WEIL sie zu den letzten Rückzugsräumen sozialen Lebens gehören, die nicht dem Diktat der Ökonomie unterworfen sind, haben sie sich im geistlosen Bemühen,  auf dem einfachsten Weg zu gefallen, selbst entwertet. Nach ökonomischen Maßstäben verlieren Bibliotheken immer: sie erwirtschaften eben keinen messbaren(!) monetären Profit.

Ob das aber die Maßstäbe sind, denen sich Menschen und ihre Gesellschaften blindlings unterwerfen sollten, sollte endlich einmal auf breiter Front bezweifelt werden. Und Bibliotheken, die Eigentum der Öffentlichkeit sind, sollten beizeiten reflektieren, wofür sie eigentlich stehen. Das Non-Profit-Pendant zum Discounter wäre ein armseliges Zerrbild des ungeheuer vielschichtigen Phänomens „Bibliothek“.