Lesen ist nicht das Thema

Längere Texte werden von den meisten Menschen nicht gelesen.

War das jemals anders? – Bücher wurden und werden zwar relativ hoch („Buch = Bildung“) gehandelt, echtes Lesen war aber immer schon anstrengend und bei der Mehrheit unbeliebt. Leidenschaft für’s Textentziffern war stets nur bei den Wenigsten im Spiel. Unzählige Kinderseelen sind aus Mangel an Alternativen zum Bücherlesen schlichtweg genötigt worden. Und sie entwickelten keine Wertschätzung für die hochkomplexe Fähigkeit des Lesens. Viele von ihnen ließen schnellstmöglich davon ab und wechselten, sobald leichter nutzbare Medien verfügbar waren, zu den funktionalen Analphabeten.

Wozu soll man sich die Leserei auch antun? Sie ist völlig abstrakt, kostet Zeit und am Ende hat man sich mit mühsamer Lesearbeit die Ideen fremder Menschen angeeignet. Man macht sich aus abstrakten Buchstaben aufwändig ein Bild – und dann? Dann bekommt man eventuell zu spüren, dass man einem Gedankengang nicht folgen kann, sieht am Buch selbst, dass man nur Seite um Seite vorwärts kommt und kann sich über Konzentrationsprobleme keine Illusionen machen. Wer will das von sich wissen? Die meisten Menschen entscheiden sich daher zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer medialen Nutzungskarriere für leichtere Kost.

Der endlose Schwall digitaler Bilder und die Aufdringlichkeit der Digitaltechnik an sich lassen auch kaum etwas anderes zu. Und das Buch ist schließlich auch nur ein Medium, aber lästig in der Nutzung. Pädagogische Interessengruppen und besorgte Eltern sehen nun die „Bildung“ in Gefahr, veranstalten Lesekompetenzförderungsaktionen und schmeißen mit Zitaten um sich: „“Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt“, weiß die „Aktion Lesefleiß“, die die „lieben Eltern“ dazu auffordert, als „Mitspieler“ teilzunehmen und der Lehrkraft in der Schule schriftlich zu bestätigen, dass das Kind gelesen hat. 15 Minuten am Tag, die Leseeinheiten werden von der Lehrkraft auf einer Website eingetragen und „je mehr Leseeinheiten Ihr Kind absolviert hat, desto voller wird die Wiese“. An welcher Stelle erwächst auf dieser digitalen Wiese eigentlich die „Bildung“, um die es angeblich geht? Die Bereicherung hier sind Punkte, digitale Blümchen und – auch – bessere Noten. Das Lesen an sich ist damit als wertlos enttarnt: erst ein von externen Kräften vergebener Bonus macht die Sache interessant.

Initiatoren, Entwickler und Multiplikatoren solcher Aktionen entblößen sich dabei mehrfach: Sie machen deutlich, dass sie selbst nicht lesen und das sie viel von Belohnungssystemen und wenig vom Verstand junger Menschen halten. Nach dieser Logik muss selbst eine Laborratte als klüger angesehen werden, als ein Mensch – es sei denn, auch der possierliche knopfäugige Nager lässt sich vom allmählichen Aufbau eines virtuellen Kanalrohres oder ähnlichem zu Wohlverhalten animieren.

Die Gleichung, in der Lesen mit Bildung gleichgesetzt wird, ist eine Täuschung. Immerhin kann man historisch betrachten, dass nicht jeder Förderer von Lesefähigkeiten behauptet hat, ein Freund der Menschen zu sein:

Karl der Große ließ eine schlichte, einheitliche Schrift entwickeln, eigens zu dem Zweck, dass auch simplere Gemüter sie mit ein wenig Übung entziffern konnten: die karolingische Minuskel. Er legte Wert auf Lesefähigkeit bei seinen Untergebenen und brachte so ein Bildungsinstrument unter die Leute. Allerdings nicht aus Menschenliebe, sondern um Missverständnisse bei der Durchsetzung seiner Herrschaftsansprüche zu vermeiden. Die heidnischen Stammesfürsten, die er sich unterwarf, sollten in der Lage sein, seine Gesetze und die Bibel (Fundament seiner Herrschaft) zu lesen.

Die gegenwärtigen Förderprogramme der „Lesekultur“ atmen denselben Geist.

Sonst nichts.

Formular "Lese-Fleiß"

Lesen – man muss es einfach tun!

One Reply to “Lesen ist nicht das Thema”

Die Kommentare sind geschloßen.