Unsere erste Begegnung war überraschend für beide Seiten. Sie, schon neunzig Jahre alt, wählte schlichte Direktheit gleich in den ersten Minuten: „Sie sind katholisch. – ?“ stellte sie fest, das Fragezeichen nach kurzem Innehalten anfügend. Gleich zu Anfang würde ich sie also enttäuschen müssen: „M-m. Nein, bin ich nicht.“
Erstaunt zog sie die Augenbrauen nach oben und wählte die zweitbeste Möglichkeit: „Dann – evangelisch?“ Oh-oh. „Auch nicht. Ich bin nicht-religiös.“
Ich hielt den Atem an in Erwartung der Ablehnung, die für eine strenge Katholikin unausweichlich sein müsste.
Sie sah mich an und sagte nur „O“. Und dann, nach kurzer innerer Zwiesprache, das soeben Gehörte mit ihrer eigenen Überzeugung abwiegend, löste sie den Moment einfach auf: „Na – die sind doch auch ganz nett!“
Sie lächelte mich an, erleichtert lächelte ich zurück und von da an waren wir uns einig: Sympathie auf beiden Seiten.
Ich bin die dritte Ehefrau ihres Sohnes geworden, er mein zweiter Ehemann. Umstandslos, von Herzen und wiederum zu meiner Überraschung nahm diese alte Dame kurzerhand auch meine Kinder als ihre Enkel an, stellte mich stolz als Schwiegertochter vor.
Sie hatte mich und meinen Mann beobachtet, verstanden und ging dann wohl davon aus, dass Gott ein Einsehen haben würde mit seinem eigenen Wirken. Sie jedenfalls gab uns stets beim Abschied ihren Segen.
Jeden Sonntag erwartete sie den Anruf ihres Sohnes und rügte ihn, wenn der Anruf zu spät kam. Kam der Anruf zu früh, rügte sie ihn allerdings auch – denn dann störte er während der Messe im Radio, der sie zu lauschen pflegte.
Es kam letztlich die Zeit, da sie nicht mehr zum Telefon gehen konnte. Die sonntäglichen Anrufe mussten aufgegeben werden und wir wussten, dass nun die Zeit des Abschieds beginnt.
Es ist ein langer, freundlicher Abschied geworden. Möglichst oft haben wir sie im Sauerland besucht, das der gebürtigen Emsländerin zur geliebten Heimat geworden war. Im März 2013 bat sie darum, mit dem Auto gefahren zu werden. Einfach ein bisschen herum, um die schöne Landschaft noch einmal in Ausführlichkeit genießen zu können.
Sie sah aus dem Fenster, den Blick voller Erinnerungen und sagte irgendwann: „Ja. Das ist mein Sauerland.“ Und kurz darauf: „So. Wir können dann auch zurückfahren.“
Sie hat auf alles zurückgeblickt und von vielem erzählt.
So hat sie Stück für Stück ihren Abschied genommen und der Tod war weder Freund noch Feind, sondern einfach ein Angehöriger. Es ist keine Frage, ob man ihn mag, ablehnt oder sonstwas über ihn denkt. Er sitzt halt einfach mit am Tisch.
Luzia Regina Striebe ist am 19. Dezember 2013 gestorben. Und als sie einmal aus Krankheitsgründen den von ihr so geliebten Chorproben fernbleiben musste (sie war eine begabte Sopranistin), stellte sie sehr richtig und nun für alle Zeiten fest: „Wenn ich nicht da bin, fehlt einer.“